von Andre Kreitlein
geschrieben 1980
Ja, meine Damen und Herren, jetzt denken Sie vielleicht, nachdem Sie diesen Titel gelesen haben: Oh Gott, „Der Aussteiger“, jetzt wird uns wieder so eine armselige, sozialkritische Geschichte aufgetischt. Aber Sie haben sich getäuscht, diese Geschichte handelt von einem ganz besonderen Aussteiger, nämlich von Egon, dem Schlossgespenst.
Er lebt seit 600 Jahren auf Schloss Dachstein, einem halb verfallenen Bauwerk irgendwo zwischen Madrid und Tokio. Vielleicht fragen Sie sich nun, warum er diesen Ort nicht genau angibt? Die Antwort ist ganz einfach, denn Sie kennen ja die Menschen: Sobald sie überzeugt sind, etwas Großartiges zu erleben, stürmen sie los, um es sich anzusehen. Außerdem ist diese Geschichte nicht erfunden, sondern die reine Wahrheit, denn Egon hat sie mir selbst erzählt.
So, genug eingeleitet, jetzt erzähle ich die Geschichte von Egon.
Wie gesagt, Egon lebt schon 600 Jahre. Er war nie wie die anderen Gespenster, er fand es blöd, jede Nacht spuken zu müssen. Er schlief lieber die ganze Nacht in seinem Bierfass, das ganz unten im Kellergewölbe stand, wo es immer dunkel und unheimlich war.
So schlief er viele Jahre, jedenfalls solange er allein war. Aber eines Tages hörte er einen großen Lärm im Burghof. Er flog so schnell er konnte hinauf und traute seinen Augen nicht: Eine Baufirma rollte an und begann, sein Schloss umzubauen, zu reparieren und zu renovieren.
Zuerst war Egon ganz wütend auf die Leute, die hier alles umbauten. Er zog sich in sein Bierfass zurück und überlegte, wie er ihnen einen Streich spielen könnte. Als er einige Monate in seinem Fass gesessen hatte und ihm beim besten Willen nichts einfiel – er war ja schon seit einigen Jahrhunderten aus der Übung – ging er hinauf und sah sich die ganze Sache noch einmal an, und je länger er hinschaute, desto besser fand er es, dass diese Leute hier bauten.
Das Schloss gefiel ihm besser denn je. Egon, muss man sagen, war einst der Besitzer dieses stolzen Anwesens gewesen.
Er hatte sich damals mit seinem Hofzauberer gestritten, eigentlich wegen einer ganz unbedeutenden Sache.
Egon – früher hieß er Baron von Dachstein – behauptete, sein Hofzauberer sei ein Nichtsnutz. Er ging sogar so weit, zu behaupten, er könne es viel besser als er.
Schließlich jagte er den Zauberer vom Hof. Als der Zauberer ging, verfluchte er den Baron. Als der das hörte, lachte er und nahm die Sache nicht so ernst, aber ein paar Wochen später verunglückte er bei der Jagd und seitdem lebte Egon in seinem Schloss als sein eigenes Schlossgespenst.
Nachdem er gestorben war, zogen die Leute nach und nach aus, und Egon musste mit ansehen, wie sein stolzes Schloss immer mehr verfiel. Deshalb war er jetzt froh, dass sein Schloss wieder aufgebaut wurde.
Nun saß Egon auf der Zugbrücke und staunte, wie schnell die Leute das Schloss wieder aufbauten. Als sich die Bauarbeiten dem Ende näherten, begann er darüber nachzudenken, warum sich die Leute so viel Mühe gegeben hatten, das Schloss wieder aufzubauen und wer wohl die neuen Bewohner sein würden.
Doch zu Egons Erstaunen geschah lange nichts. Er saß in seinem Bierfass und wartete gespannt, wer wohl kommen würde, und eines Tages, wie aus heiterem Himmel, fuhren mehrere Busse und Autos vor. Egon flog nach oben und sah sie alle an. Es waren hauptsächlich junge Leute. Alle hatten Koffer dabei.
Er erschrak und dachte schon, diese Leute wollten für immer in seiner Burg bleiben, aber es klärte sich alles auf. Es war nur eine Seminargruppe, die über das Wochenende ein Seminar abhielt. In dem Seminar ging es um die Regeln und Normen, in die Menschen gepresst werden.
Zuerst hörte Egon nur mit einem Ohr zu, aber dann begann ihn die ganze Sache zu interessieren. Immer wieder kamen Seminargruppen, und jedes Mal hörte er den Vorträgen gespannt und interessiert zu.
Nach jedem Seminar setzte er sich in sein Bierfass und machte sich seine eigenen Gedanken.
Dabei fiel ihm auf, dass auch er als Geist an gewisse Regeln und Vorschriften gebunden war. So fiel ihm zum Beispiel auf, dass die Geisterstunde immer von 0 bis 1 Uhr war, und er überlegte, warum das so sein könnte.
Da er auf diese und andere Fragen keine Antwort fand, beschloss er, selbst ein Seminar zu veranstalten. Dazu lud er alle Gespenster der Welt ein und stellte ihnen seine Überlegungen vor. Diese erklärten ihn kurzerhand für ein altes, verrücktes Schlossgespenst, das alle Normen, die es seit Jahrtausenden gab, über Bord werfen wollte. Das ärgerte Egon so sehr, dass er die Geisterstunde für sich einfach von 0 bis 1 Uhr auf 11:30 bis 0:30 Uhr verschob. Das schockierte die anderen Gespenster so sehr, dass sie sich ganz in der Nähe von Egons Burg in einem alten Bauernhaus versammelten und Kriegsrat hielten. Die gewalttätigen Geister meinten, man solle Egon so erschrecken, dass er nicht mehr wisse, ob er Egon oder Franz heiße, und sie wollten die Seminarteilnehmer aus dem Schloss vertreiben, damit sie Egon keine Flausen mehr in den Kopf setzen könnten.
Die Guten meinten, man solle ihn in seinem Schloss in Ruhe verrotten lassen. Da sie sich nicht einigen konnten, spaltete sich die ganze Gesellschaft in zwei Lager. Was sie aber nicht wussten, war, dass Egon draußen vor der Tür stand und alles mit angehört hatte. Als er traurig davonging, hörte er noch, wie einer sagte, dass sie beim nächsten Neumond, also in einer Woche, das Schloss stürmen wollten.
Wie am Boden zerstört schwebte Egon in seine Burg zurück und wollte schon aufgeben, als ihm eine gute Idee kam, die er sofort in die Tat umsetzen wollte.
Der Gruppenleiter der Seminare war ihm schon immer sehr sympathisch gewesen, und er wollte mit ihm Kontakt aufnehmen, aber wie? Da kam Egon der Zufall zu Hilfe. Frank, der Leiter, hatte alle seine Ordner und Zettel auf seinem Schrank liegen und wollte sie gerade herunterholen. Plötzlich kippte der Stuhl, auf dem er stand, um und Frank konnte sich gerade noch am Schrank festhalten. Doch zu allem Unglück fing der Schrank an zu wackeln und kippte langsam nach vorne.
Frank ließ los und fiel zu Boden, aber der Schrank fiel weiter und drohte, ihn zu zerquetschen. Doch bevor es dazu kommen konnte, griff Egon ein und hielt den Schrank fest. Frank war verwirrt und erschrocken, als der Schrank nur wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen kam. Als er den Schreck überwunden hatte, machte Egon sich sichtbar, was Frank sofort den nächsten Schlag versetzte, aber auch das hatte er schnell überwunden, denn er hatte Egon zu danken, dass ihm nichts passiert war, und das tat er auch sofort.
Nachdem sich die beiden kennengelernt hatten, erklärte Egon Frank, warum er ihm geholfen hatte und warum er sich an ihn gewandt hatte. Als Frank das alles hörte, musste er lachen, obwohl es eine ernste Sache war.
Die beiden überlegten nun, was sie gegen die bösen Geister tun könnten. Da hatte Frank eine gute Idee. Er erzählte sie Egon, der zustimmte und ganz begeistert war. Frank ging aus dem Zimmer hinaus auf den Burghof und fuhr davon.
Am Abend kam er wieder, vollgepackt mit vielen verrückten Kostümen wie z. B. dem Kostüm von Frankenstein, Hui Buh, dem Werwolf und was es sonst noch so gibt. Er zeigte alles Egon, der die Kostüme echt gruselig fand. Jetzt kam das Wichtigste: Frank stellte Egon seinen Kursteilnehmern vor. Zuerst waren sie erschrocken, dass es wirklich Gespenster gibt, aber nachdem sie sich an den Anblick von Egon gewöhnt hatten, waren sie begeistert, sich mit Egon zu unterhalten.
Nachdem sie Egon gut kennengelernt hatten, erzählte ihnen Frank, was sie erwartete, und Egon erklärte ihnen den Plan.
Die Begeisterung war groß. Nachdem die Begeisterung verflogen war, erklärte Egon ihnen, wie die ganze Aktion genau ablaufen sollte und wie sie sich zu verhalten hatten. Der Tag des „Angriffs“ der Gespenster rückte immer näher und die Spannung stieg, ob der Plan wie geplant funktionieren würde. Aber sie hatten einige entscheidende Vorteile gegenüber ihren Angreifern, denn sie wussten, wann diese kommen würden, nämlich zwischen 0 und 1 Uhr, und sie hatten den Überraschungseffekt auf ihrer Seite.
Mitternacht rückte immer näher. Draußen vor dem Schloss herrschte atemlose Stille, man hörte nur den Wind durch die Äste der Bäume streichen und hier und da ein leises Knacken und Rascheln.
Die Spannung, die in der Luft lag, war fast unerträglich. Der Glockenturm des kleinen Dorfes, das nicht weit entfernt lag, begann, Mitternacht zu schlagen. Genau mit dem 12. Glockenschlag begann das Höllenspektakel. Die Gespenster stürmten die Burg, dass allen das Blut in den Adern erstarrte und es ihnen kalt über den Rücken lief, aber sie blieben ganz ruhig, wie Egon ihnen geraten hatte.
Als die Gespenster merkten, dass niemand da war, den sie erschrecken konnten, versammelten sie sich ratlos im großen Saal des Schlosses und berieten sich.
Plötzlich gingen überall die Lichter an, sodass der Saal taghell erleuchtet war und die Gespenster zusammenzuckten. Aber das war noch nicht alles. Aus allen Richtungen kamen die schrecklichsten Gestalten auf die Angreifer zu und umzingelten sie langsam. Das war für die „armen“ Geister einfach zu viel, sie flohen schneller, als sie gekommen waren. Die anderen „Geister“ lagen auf dem Boden und krümmten sich vor Lachen. Als sie sich wieder beruhigt hatten, gratulierte Egon ihnen zu ihrem durchschlagenden Erfolg.
Am nächsten Tag war das Seminar leider zu Ende und alle mussten abreisen, aber sie versprachen, Egon immer wieder zu besuchen. Jetzt war Egon zwar wieder allein, aber er wusste, dass er gute Freunde gefunden hatte.
Heute ist er der einzige Geist, der viele Freunde hat, und die anderen Geister lassen ihn sofort in Ruhe.
Die größte Freude hatte Egon jetzt, wenn er an diese Zeit zurückdachte. Seine Freunde veranstalten nun jedes Jahr in seinem Schloss ein großes Fest, das es heute noch gibt und das an diesen seltsamen Tag erinnert.
Beurteilung der Geschichte
Themen
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Freiheit vs. Tradition: Egon widersetzt sich den üblichen „Geisterregeln“.
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Identität & Selbstbestimmung: Er hinterfragt, warum er tun sollte, was „immer so war“.
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Mut zur Veränderung: Egon wagt es, alte Normen aufzubrechen.
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Freundschaft & Gemeinschaft: Er findet Verbündete außerhalb der Geisterwelt.
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Humor & Leichtigkeit: Trotz Konflikten bleibt die Geschichte verspielt und warmherzig.
Stil
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Märchenhaft, humorvoll, leicht verständlich.
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Viele direkte Ansprachen an das Publikum („Sie denken vielleicht…“).
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Klassische Erzählstrukturen und klare Chronologie.
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Figuren sind symbolisch angelegt (z. B. böse Geister = starre Normen).
Geeignet für
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Kinder und Jugendliche
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humorvolle Blogs
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Themen wie Selbstfindung, Anderssein, Mut zur Veränderung
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erzählende Blogs, die Geschichten veröffentlichen
Die zwei 1980 gezeichneten Bilder

